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Baden-Württemberg: Stuttgart 21 – Grün-Rot stolpert zum Volksentscheid
Als „Stolperstein“ hatte Winfried Kretschmann das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 (S21) in den Koalitionsverhandlungen zwischen Grünen und SPD in Baden-Württemberg bezeichnet. Aber der designierte Ministerpräsident von den Grünen setzte in der „Stuttgarter Zeitung“ gleich hinzu: „Ein guter Stolperer fällt nicht hin.“
Doch brauchten die stolpernden Wunsch-Koalitionäre ziemlich lange, bis sie die Balance gefunden hatten. Bis in den Mittwochabend hinein rangen Kretschmann und der SPD-Spitzenkandidat Nils Schmid zusammen mit S-21-Experten beider Parteien in ihrer dritten Verhandlungsrunde zu dem Thema darum, wie man mit dem Bahnhofsprojekt umgehen soll.
Auf dem Spiel stand das Schicksal der Koalition. Denn allen Teilnehmern der zwischendurch unterbrochenen Gespräche war klar, dass ohne einen Kompromiss in dieser Frage die beiden Parteien wohl kaum würden regieren können.
Wie viel sie auch ansonsten schon vereinbart hatten, von ersten Ansätzen zur Haushaltskonsolidierung über Eckpunkte zu einer Energiewende bis hin zu Grundzügen eines Bildungspakets – wenn sich Grüne und SPD nicht beim großen Reizthema des Südwestens würden einigen können, hätte die Koalition kaum arbeiten können.
Doch dann wurde ein Kompromiss gefunden, den Schmid als „Durchbruch“ bezeichnete. Demnach „befürworten beide Parteien die Durchführung einer Volksabstimmung“, wie Kretschmann sagte. Er fügte hinzu: „Wenn es ein Ergebnis gibt, dass zum Beispiel Stuttgart 21 gebaut werden soll, werden wir uns an so ein Ergebnis halten.“ Das ist für die Grünen ein schwerer Schritt, weil sie den Tiefbahnhof schon seit mehr als zehn Jahren vehement ablehnen und unter hohem Erwartungsdruck der S-21-Gegner stehen. Die SPD hingegen befürwortet das Projekt.
Wie Schmid ergänzte, sollen die Baden-Württemberger bei der Volksabstimmung im Oktober nur über den Finanzierungsanteil des Landes am Umbau des Stuttgarter Kopfbahnhofs in eine unterirdische Durchgangsstation entscheiden. Die geplante Neubaustrecke nach Ulm soll ausgeklammert werden, was bedeuten dürfte, dass Grün-Rot sich ihr nicht verweigern wird.
Was jedoch die S-21-Kosten betrifft, so wollen Grüne und SPD Steigerungen über die früher vereinbarte Obergrenze von 4,5 Milliarden Euro hinaus nicht mittragen. Sollte der in der Schlichtung vereinbarte Stresstest ergeben, dass für die Leistungsfähigkeit des Tiefbahnhofs kostspielige Nachbesserungen nötig sind, werde die neue Landesregierung kein neues Geld dafür geben, sagte Kretschmann. Steigerungen müssten mithin Bund und Bahn tragen. Bis zur Volksabstimmung soll der Baustopp bei dem Projekt verlängert werden.
1980er Jahre Erste Überlegungen zur Umgestaltung des Stuttgarter Hauptbahnhofs kommen auf. Der 1922 eröffnete Bahnknotenpunkt gilt als sanierungsbedürftig. April 1994 Das Projekt Stuttgart 21 wird erstmals der Öffentlichkeit präsentiert. Es sieht einen unterirdischen Hauptbahnhof am alten Standort, die Anbindung an den Flughafen, eine Hochgeschwindigkeitsstrecke und einen neuen Stadtteil auf frei werdenden Gleisflächen vor. Dezember 1992 Das Projekt wird im baden-württembergischen Landtag im Verkehrsausschuss erstmals beraten. November 1995 Land, Stadt, Bahn und Bund einigen sich grundsätzlich auf das Projekt Stuttgart 21 und die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm. 1997 Aus einem Wettbewerb geht das Düsseldorfer Architekturbüro Ingenhoven, Overdiek und Partner als Sieger hervor. Das futuristische Konzept sieht eine unterirdische Bahnhofshalle vor, die über große "Bullaugen" mit Tageslicht versorgt wird. 1998 und 1999 Die Planungen geraten ins Stocken. Es kommt zu Nachverhandlungen über die Finanzierung. 2001 In einer Vereinbarung wird festgelegt, dass das Land Baden-Württemberg Kostenanteile des Bundes vorfinanziert. Dennoch kommt es in der Folgezeit immer wieder zu Spekulationen über Ausstiegspläne von Bund und Bahn. Juli 2001 Die Planfeststellungsverfahren laufen an. April 2003 Es beginnt ein Erörterungsverfahren, bei dem insgesamt 5.200 Einwendungen von privater Seite gegen das umstrittene Projekt geprüft werden. Februar 2005 Das Eisenbahnbundesamt erlässt den Planfeststellungsbeschluss für den Umbau des Bahnhofs. April 2006 Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg weist mehrere Klagen von Stuttgart-21-Gegnern zurück. 12. Oktober 2006 Der Landtag stimmt Stuttgart 21 und der Neubaustrecke Stuttgart-Ulm in einem Grundsatzbeschluss zu. 20. Dezember 2007 Der Gemeinderat der Stadt Stuttgart lehnt einen Bürgerentscheid für den Ausstieg der Stadt aus dem Projekt mit großer Mehrheit ab. 2. April 2009 Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD), Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) und Bahn-Vorstand Stefan Garber unterzeichnen die Finanzierungsverträge zum Bahnprojekt Stuttgart-Ulm. 13. Mai 2009 Der baden-württembergische Landtag stimmt den Finanzierungsverträgen zu. 10. Dezember 2009 Bund, Bahn, Land, die Stadt Stuttgart und der Verband Region Stuttgart einigen sich endgültig auf die Umsetzung von Stuttgart 21. 2. Februar 2010 Die Bauarbeiten im Stuttgarter Hauptbahnhof beginnen. 30. August 2010 Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) und Grünen-Landesfraktionschef Winfried Kretschmann laden zu einem Runden Tisch ohne Vorbedingungen ein, der jedoch am 6. September abgesagt wird. 7. September 2010 Die SPD-Spitze, die sich bislang stets für Stuttgart 21 ausgesprochen hatte, bringt einen Volksentscheid ins Spiel. 15. September 2010 Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) verknüpft in der Generaldebatte im Bundestag die Landtagswahl in Baden-Württemberg mit dem Projekt Stuttgart 21.
17. September 2010 Der Sprecher des Projekts, Wolfgang Drexler (SPD), tritt zurück. 24. September 2010 Erstes Sondierungsgespräch zwischen Gegnern und Befürwortern in Stuttgart. 30. September 2010 Die Auseinandersetzung über das Bahnprojekt eskaliert, als die Polizei zur Sicherung der Baustelle im Stuttgarter Schlossgarten mit Wasserwerfern und Pfefferspray gegen Demonstranten vorgeht. Nach Behördenangaben werden dabei mehr als hundert Menschen verletzt. In der Nacht werden die ersten Bäume gefällt. 6. Oktober 2010 In einer Regierungserklärung benennt Ministerpräsident Mappus den früheren CDU-Generalsekretär Heiner Geißler als Vermittler zwischen Gegnern und Befürwortern des Bahnprojekts. Die Grünen verlangen allerdings einen Baustopp als Voraussetzung für die Gespräche. Die SPD bekräftigt ihre Forderung nach einer Volksabstimmung. 7. Oktober 2010 Geißler sorgt bei seinem ersten öffentlichen Auftritt für Verwirrung. Er verkündet einen Baustopp, den zunächst Bahnchef Grube und Mappus dementieren und später auch Geißler relativiert. 11. Oktober 2010 Grube lehnt einen Bau- und Vergabestopp ab. 22. Oktober 2010 Die Schlichtungsgespräche beginnen. Erstmals müssen eine Landesregierung und die Deutsche Bahn ein Großprojekt vor einer Bürgerbewegung rechtfertigen. Die Verhandlungen werden live im Fernsehen und Internet übertragen. 27. November 2010 Am Ende des Schlichtungsverfahrens zeigen sich beide Seiten trotz unterschiedlicher Auffassungen bezüglich der Leistungsfähigkeit, der zu erwartenden Kosten sowie der Wirtschaftlichkeit des geplanten Tiefbahnhofs und der Hochgeschwindigkeitstrasse zufrieden mit der Schlichtung. Man habe die jeweils eigenen Argumente in sachlicher Weise vorbringen können. 30. November 2010 Heiner Geißler fordert in seinem Schiedsspruch umfangreiche Nachbesserungen am Konzept von Stuttgart 21. So dürfen keine gesunden Bäume im Schlossgarten mehr gefällt werden, zwei zusätzliche Gleise müssen im Tiefbahnhof vorgesehen werden und die Bahn wird verpflichtet, die Leistungsfähigkeit des Bahnhofs in einem "Stresstest" nachzuweisen. Unmittelbar nach dem Schiedsspruch gibt es spontane Protestäußerungen der Gegner vor und im Rathaus. 2. Dezember 2010 Eine Mehrheit der Baden-Württemberger spricht sich erstmals für den Bahnhofsumbau aus. Einer repräsentativen Umfrage zufolge sind 54 Prozent der Befragten für das Projekt. Anfang September hatte noch eine knappe Mehrheit der Menschen im "Ländle" das Milliardenprojekt abgelehnt. 17. Januar 2011 Auch im neuen Jahr gehen die Großdemonstrationen gegen das Bauvorhaben weiter. Mehrere Tausend Menschen gehen auch in den Folgemonaten auf die Straße. Die Teilnehmerzahlen liegen aber deutlich unter den Spitzenwerten aus dem Vorjahr, als zeitweise mehrere Zehntausend Menschen protestierten. 8. Februar 2011 Unter dem Protest von Hunderten Demonstranten wird mit der Verpflanzung von 16 Bäumen am Hauptbahnhof begonnen. Eine befürchtete Eskalation bleibt aus. Die Kosten der rund 200.000 Euro teuren Umpflanzungen übernimmt die Bahn. 27. März 2011 Bei den Landtagswahlen erleidet die CDU eine historische Wahlniederlage und verliert die Macht an ein grün-rotes Regierungsbündnis. Die SPD ist für das Projekt, die Grünen lehnen es ab. Beide Parteien haben im Vorfeld der Wahl signalisiert, dass sie sich auf eine Volksabstimmung über Stuttgart 21 einigen könnten. 07. April 2011 Nach ersten Gesprächen über Stuttgart 21 einigen sich Grüne und SPD, zunächst den sogenannten Stresstest der Deutschen Bahn zur Leistungsfähigkeit des geplanten unterirdischen Bahnhofs abzuwarten und dann auf dessen Grundlage das Volk in einer Abstimmung über den Weiterbau entscheiden zu lassen. Quelle: dapd
Zudem vereinbarten die Koalitionäre, sich für eine Absenkung des Quorums bei Volksabstimmungen in der Landesverfassung einzusetzen. Diese verlangt bisher, dass 33 Prozent der Wahlberechtigten zustimmen. Mithin müssten rund 2,5 Millionen Bürger für ein Ende von S21 stimmen, um den Tiefbahnhof zu verhindern. Kaum jemand glaubt, dass dieses hohe Quorum erreicht wird.
Deshalb wollen SPD und Grüne nun per Verfassungsänderung das Quorum senken. Dafür brauchen sie im Landtag eine Zweidrittelmehrheit, folglich die Stimmen der CDU. Die jedoch hat sich bislang geweigert, den Grünen diesen Gefallen für die leichtere Ablehnung von Stuttgart 21 zu tun. Doch wollen Grüne und SPD die CDU ködern. Denn diese hat in der vergangenen Legislaturperiode selbst vorgeschlagen, das Quorum auf 25 Prozent zu senken. Das wurde damals von SPD und Grünen abgelehnt, weil es ihnen nicht weit genug ging. Aber wenn sie es der CDU jetzt neu vorschlagen? Bisher lehnt die CDU ab.
Erschwerend für Grüne wie SPD kommt hinzu, dass ihnen unklar ist, wie sie sich im „Wahlkampf“ einer Volksabstimmung verhalten. Soll die eine Regierungspartei zur Ablehnung aufrufen, die andere zur Zustimmung? Und wenn die Regierung neutral bleibt – sollen auch ihre Spitzenpolitiker den Mund halten? Der floss ihnen in jüngster Zeit über. Die SPD griff die Grünen scharf an. Schmid sagte der „Zeit“, die Grünen müssten „lernen, was es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen“. Dazu gehöre, „die Parkschützer von den Bäumen zu holen“.
Damit spielte er auf jene S-21-Gegner an, die im Stuttgarter Schlossgarten in den Ästen hocken und jeden Kompromiss ablehnen. Von ihnen wird die SPD als potenzieller Verräter des Bahnhofswiderstands attackiert. „Bau jetzt bloß kein Scheiß“, hieß es neben einem Foto von Nils Schmid sprachlich eigenwillig auf Plakaten, die Bahnhofsgegner jüngst zur Stuttgarter SPD-Zentrale trugen. Solche Hitzköpfe dürfte Grün-Rot durch Kompromisse kaum beruhigen.
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Kategorie: Meine Artikel | Hinzugefügt von: sorvynosov (20.04.2011)
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