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Der Maskenmann: "GerdX", der Gedichte in Pädophilen-Foren schrieb
Die Mappen und Aktenordner liegen ordentlich nebeneinander auf dem gläsernen Couchtisch, als seien es Unterlagen für die Steuererklärung. Ulrich Jahr sitzt aufrecht auf dem Sofa in seinem Wohnzimmer, der Blick aus seinen blauen Augen verrät weder Nervosität noch Anspannung.
Keine Wimper zuckt. Er kennt die vielen Hundert Seiten, er hat sie Dutzende Male gelesen, analysiert, durchdrungen, er wirkt so, als ginge es bloß um Bewirtungsbelege. Doch auf den vielen Hundert Seiten sind die letzten Stunden des Lebens seines Sohnes Stefan ausgebreitet. Ganz vorne liegt die Anklageschrift, eines der jüngeren Dokumente, sie datiert vom 17. Juli 2011. Dann hat er noch einen Hefter mit Zeitungsartikeln und einen Ordner mit der Aufschrift „Bildermappe“.
Farbfotos sind dort zu sehen, die die Polizei vom Tatort in den Verdener Dünen gemacht hat. Die Serie beginnt ganz harmlos, mit Luftaufnahmen von der Sandkuhle, in der sie Stefan gefunden haben. Dann rückt die Kamera dem Fundort am Boden näher, zeigt die Stelle aus etwa 30 Meter Entfernung.
Die Bilder sind so schlimm, man möchte "Stopp" rufen. Genug
Schließlich ist der Leichnam zu erkennen, ein gekrümmter, an den Händen gefesselter, halb bekleideter Junge: Stefan Jahr, damals 13 Jahre alt und zu diesem Zeitpunkt, dem 3. Mai 1992, bereits seit fünf Wochen tot.
Man möchte „Stopp“ rufen. Genug gesehen, oder, Herr Jahr? Aber der Mann mit dem weißen Haar und dem akkurat gestutzten Schnurrbart blättert weiter, zu den Bildern der Obduktion. Da gab es ein Haar, das nie mit DNA-Datenbanken abgeglichen worden ist, das lag da, an der Hand.
Er deutet auf ein Foto. Und dann wühlt er in einem anderen Ordner und weist auf den Schriftwechsel zwischen ihm und dem niedersächsischen Innenministerium hin, er erzwingt im September 2011 schließlich einen DNA-Abgleich mit dem Verdächtigen Martin N. Da hat der längst gestanden. Ein kleiner Sieg – und ein sinnloser Sieg.
Es gibt kein „Stopp“ für Ulrich Jahr, hat es nie gegeben, seitdem sein ältester Sohn Stefan in der Nacht zum 31. März 1992 aus seinem Schlafzimmer im Internat Scheeßel bei Bremen verschwand. Ulrich Jahr kämpfte damals gegen die Einschätzung der Polizei, Stefan sei einfach aus freien Stücken abgehauen. Er heuerte Privatermittler an, äußerte seinen Verdacht gegen Menschen, die er für den Täter hielt, er verteilte Flugblätter. Jahr legte sich mit der Polizei an, der Staatsanwaltschaft und dem Innenministerium.
Er wollte etwas tun, sich nicht ergeben in ein Opfer-Schicksal, aber bis zum 14. April 2011 wühlte und stocherte er vergebens herum. Der 68-Jährige arbeitete jahrzehntelang als selbstständiger EDV-Berater, installierte und programmierte SAP-Software.
Irgendwo musste er sie finden, die fehlerhafte Zeile im Programmablauf des Täters. Oder den „Bug“ im Fahndungsprotokoll der Polizei. Es musste doch einen Hinweis geben, einen neuen Ansatz, niemand ist perfekt, aber Ulrich Jahr suchte vergebens, beinahe 19 Jahre lang.
Dann kam der Tag, als die Sonderkommission „Dennis“ anrief
„Die Phase des Hasses war nach ein paar Jahren vorbei“, erinnert er sich. Irgendwann war der Täter, den die Medien nur den „Maskenmann“ nannten, nur noch eine abstrakte Figur geworden.
Dann kam der Tag, als die Sonderkommission „Dennis“ ihn anrief und von der Festnahme Martin Ns. berichtete. Die Polizei ordnete dem Maskenmann inzwischen zwei weitere Morde zu, den an Dennis R. im Jahr 1995 und an Dennis K., der 2001 umgebracht wurde.
„Er passte genau ins Täterprofil, das die Polizei angefertigt hatte“, sagt Jahr. Intelligent, angepasst, allein lebend und fähig, Empathie vorzugaukeln, sympathisch zu sein: So stellten sich die Profiler vom Landeskriminalamt Bayern, die wegen ihrer Erfahrung hinzugezogen worden waren, den Täter vor.
Stimmte ja auch alles. Aber das half den Beamten der Soko auch nichts, als sie ihn das erste Mal leibhaftig vor sich hatten. Das war am 5. Dezember 2007. Der heute 40-Jährige Martin N. fiel genau ins Raster der Fahnder, war wegen sexuellen Missbrauchs vorbestraft und hatte kein Alibi für die Tatzeiten vorzuweisen. Die Beamten konnten aber „keine konkreten Bezüge“ zwischen ihm und der Tat herstellen, wie die Staatsanwaltschaft in ihrer Anklageschrift feststellt. Sie ließen ihn wieder laufen. Spur abgearbeitet, die nächste wartete. Es ist die Zeit des Konjunktivs und der Vorwürfe.
Haben die Beamten wirklich alles gegeben, als sie Martin N. befragten? Hätten sie ihn nicht stärker auf die Lücken im Alibi hinweisen müssen? Bereits am 2. März 2006 durchsuchte ja die Hamburger Polizei die Wohnung von N., weil der einen Kollegen erpresst hatte. Dabei fanden die Beamten Tausende Bilder mit Kinderpornografie, darunter auch einige Fotos, die von Martin N. gequälte Jungs zeigten.
Müsste man solche als pädophil bekannte Männer nicht viel härter angehen? „Die Soko hat alles getan, was getan werden musste“, sagt ihr Sprecher Jürgen Menzel. Die Hamburger Staatsanwaltschaft gibt sich nachdenklicher. „Wir haben aus dem Fall die Lehre gezogen, dass wir das Umfeld solcher Verdächtigten in Zukunft viel stärker abklopfen werden“, sagt Wilhelm Möllers, Sprecher der Behörde.
Spezialisten können das PC-Passwort von N. nicht knacken
Die Hamburger Strafverfolger hatten in den vergangenen Jahren mit 200 bis 400 Fällen von Kinderpornografie pro Jahr zu tun, je nachdem, wie viele Tauschringe aufgeflogen sind. Nach allem, was man weiß, wäre auch durch eine frühere Festnahme keine weitere Straftat verhindert worden.
Aber die Fahnder wissen eben noch nicht alles. Denn bei der Festnahme und der Durchsuchung seiner Wohnung stellten die Polizisten auch seinen neuen Computer sicher. Doch dieses Mal ist er passwortgeschützt – bis zum heutigen Tag. Spezialisten des Landeskriminalamts in Hannover versuchen seit Monaten, den Code zu knacken.
Martin N. verweigerte mehrfach die Herausgabe. Er mache sich „Sorgen um die Menschen“, jammert Martin N. im Verhör, er will keinen „in Befragungen hineinziehen“. Aber es sei nichts über „schlimme Taten von mir“ zu finden, versichert der Mann weinend.
Es bleibt den Ermittlern und der Staatsanwaltschaft nur übrig, das Geständnis und die bekannten Fakten zusammenzutragen. Auf 28 Seiten dokumentieren die Juristen den Fall mit der Geschäftsnummer 121 Js 24177/01, der nicht nur drei Morde, sondern auch 19 weitere Fälle sexuellen Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen enthält.
An einem Kind verging sich Martin N. vier Mal, ein anderes suchte er zwei Mal auf. Stets mit einer Sturmhaube und einem schwarzen Pulli bekleidet bedrohte der 1,96 Meter große Mann die Kinder, schlich sich in Schullandheime, brach in Wohnhäuser ein und überraschte seine Opfer in ihren Schlafzimmern – offenbar ohne Angst, entdeckt zu werden.
Als „GerdX“ schrieb er Gedichte in Pädophilen-Foren
Unter dem Pseudonym „GerdX“ ließ er in einem Pädophilen-Forum seinen Gewaltfantasien in einem Gedicht freien Lauf. Doch in den Vernehmungen mit den Beamten weint er, bezeichnet sich als „eigentlich netten Mann“. Wie die Morde genau abliefen, verrät er nicht oder gibt Versionen zum Besten, die stimmen könnten. Aber nicht müssen.
Es ist diese Unsicherheit, die Ulrich Jahr weiterrecherchieren lässt. Was genau ist bloß in der Nacht zum 31. März geschehen? Er hat Gutachten angefordert, seinen ersten Anwalt, den Hamburger Star-Verteidiger Gerhard Strate, in die Spur gesetzt und eine eigene Version des Tatablaufs konstruiert. Demnach wurde Stefan bereits kurz nach dem Auftauchen des „Maskenmanns“ getötet, anders als die Polizei glaubt. Martin N. habe die Leiche dann aus dem Bett getragen und wegtransportiert, glaubt Jahr. Bei der Polizei jedoch habe N. angegeben, dass er Stefan gefesselt und versucht habe, im Genitalbereich zu berühren.
Als Stefan daraufhin laut protestierte, sei er mit ihm weggefahren und habe ihn später aus Angst, Stefan habe das Autokennzeichen lesen können, auf einem Feldweg erwürgt. Im Obduktionsbericht stellen die Rechtsmediziner fest, dass Stefan missbraucht wurde. Ob er da noch lebte, ist wegen der fünfwöchigen Liegezeit der Leiche nicht mehr festzustellen. Es ist für das Strafmaß und die juristische Bewertung auch nicht besonders wichtig.
Aber Ulrich Jahr will es trotzdem wissen. Haarklein, bis ins letzte Detail. Er hat sich mit dem Mageninhalt der Leiche seines Sohnes beschäftigt, mit Nekrophilie und anderen Abartigkeiten, er will, dass alles herauskommt. „Der Mann muss weggeschlossen werden, für immer“, fordert er.
Inklusive der Feststellung der besonderen Schwere der Schuld und lebenslänglicher Sicherungsverwahrung. Das Weinen in den Verhören sei nur eine Masche, um billiger davonzukommen. Laut dem vorläufigen psychologischen Gutachten ist Martin N. schuldfähig, das berichtet der NDR.
Neben dem Mord an dem neunjährigen Dennis hat der mutmaßliche Täter noch zwei weitere Taten gestanden, die bis zu 19 Jahre zurückliegen. März 1992: Der 13-jährige Stefan verschwindet aus seinem Internat in Scheeßel (Kreis Rotenburg). Mai 1992: Spaziergängerinnen finden die vergrabene Leiche des Jungen bei Verden. Juli 1995: Der achtjährige Dennis R. verschwindet aus einem Zeltlager am Selker Noor (Kreis Schleswig-Flensburg). Eine der größten Suchaktionen in der Geschichte des Kreises begann. August 1995: Ein Jogger findet die Leiche des Jungen in den Dünen nahe der dänischen Stadt Holstebro. Dezember 1998: Das Flensburger Amtsgericht erlässt Haftbefehl gegen einen Verdächtigen. März 1999: Der Mann wird freigelassen, der Verdacht hat sich nicht erhärtet. September 2001: Der neunjährige Dennis K. verschwindet aus einem Schullandheim im Kreis Cuxhaven. Hunderte Polizeibeamte, Jäger sowie Soldaten, freiwillige Helfer und die Wasserschutzpolizei suchen zwei Wochen nach dem Jungen. Dann finden Pilzsammler seine Leiche. Dezember 2001: Die Polizei geht von einem Serientäter aus. Februar 2011: Es gibt neue Zeugenaussagen sowie eine Fernsehdokumentation zu den Morden. April 2011: Die Soko „Dennis" gibt die Verhaftung eines Tatverdächtigen bekannt: Martin N. hat die drei Morde gestanden. Juli 2011: Gegen Martin N. wird Anklage erhoben. 10. Oktober 2011: Voraussichtlicher Beginn des Prozesses Am Montag (10. Oktober) um 10.15 Uhr wird er natürlich als Nebenkläger mit im Gerichtssaal sitzen, zusammen mit den Eltern von Dennis K. und Dennis R. Engere Kontakte haben sich nicht zwischen den Angehörigen ergeben, jeder verarbeitet das Unfassbare auf seine Weise.
Die Journalisten und Fotografen werden auf das Bild setzen, wie Martin N. den Blicken der Eltern begegnen wird. Für Jahr ist das kein Thema. „Ich habe gar kein Interesse, dem in die Augen zu sehen oder ihm endlich leibhaftig zu begegnen“, sagt er. Von Psychologisierungen hält er nichts, da sitze nicht „das Böse“ vor ihm und er ist kein Racheengel.
Es wäre nur schön, wenn endlich ans Licht käme, was wirklich passiert ist. Wenn die Dokumente auf dem Glastisch nicht mehr so viel Macht über ihn hätten, die Vernehmungsprotokolle, die Bildermappe. Wäre schön, wenn er endlich aufhören könnte, nach dem Monster namens Wahrheit zu suchen.
"Der schwarze Maskenmann", eine Dokumentation zum Mordfall Dennis, Montag, 10. Oktober um 21 Uhr im NDR
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Kategorie: Meine Artikel | Hinzugefügt von: sorvynosov (09.10.2011)
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